Die Aufdeckung der Mordtaten des Dr. Heinrich Gross und anderer MedizinerInnen in der Klinik "Am Spiegelgrund" erfolgte 1978-81 in der Situation einer grundlegenden Veränderung der psychiatrischen Praxis, ihrer Institutionen und der entsprechenden Wissenschaften. Die antipsychiatrische Kritik der Institutionen befand sich auf einem Höhepunkt, "soziale Psychiatrie" oder "gemeindenahe Psychiatrie" waren die Stichwörter, unter denen eine Umgestaltung der Psychiatrie in der westlichen Welt erfolgte.
Seither haben sich die Verhältnisse geändert. In den letzten zwanzig Jahren hat die "biologische Psychiatrie" mächtigen Aufwind erhalten. Neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse, neue technische Geräte (z.B. bildgebende Verfahren) haben die Forschung in andere Bahnen gelenkt. Diese Neuerungen versprechen eine biologische Erklärung für Erscheinungen unserer Psyche zu liefern, die noch in den 80er-Jahren undenkbar schienen. Damals galt "biologische Psychiatrie" als veraltet. Heute scheint sie utopische Hoffnungen auf Heilung und eventuell sogar Vorbeugung zu verkörpern. Allerdings lässt sich noch kaum sagen, ob diese Erkenntnisse wirklich das halten, was sie versprechen. Schon einmal hat im letzten Jahrhundert die Utopie der "Heilung" schließlich mit der grausigen Realität der "Vernichtung" geendet.
Auf einer ganz anderen Ebene ist aus der "Rassenhygiene" (oder der "Eugenik") die Human-Genetik unserer Tage entstanden. Erkennen wir heute, dass die nationalsozialistischen Untaten auf der Grundlage völlig unzureichenden Wissens um Vererbung und ihre hochkomplizierten Mechanismen beruhten, so verspricht die gegenwärtige Genetik uns dieses sichere Wissen "endlich" zu liefern. Die Utopie vom "erbgesunden" Menschen scheint neuerlich in greifbare Nähe gerückt. Was in grober Vereinfachung in der Öffentlichkeit angepriesen wird, stimmt allerdings vielfach nicht mit den komplexen Ergebnissen der WissenschaftlerInnen überein. Unsere alten Bilder von "der Biologie", "der Vererbung" drohen das neue Wissen in die alten Bahnen zu lenken. Hatten "die Nazis" am Ende doch recht? Kehren wir zur "biologischen Psychiatrie" der NS-Zeit zurück? Die differenzierten Ergebnisse heutiger Forschung sprechen nicht dafür und lassen eine weit kompliziertere Wirklichkeit erkennen. Aber sie werden oft in den alten Rastern biologistischen Denkens gelesen. Hier ist kritische Aneignung und eine demokratische Diskussion in der Öffentlichkeit dringend nötig.
Darüber hinaus erleben wir eine neue, weltweite "Euthanasie"-Debatte. Wieder wird der "sanfte Tod" angepriesen: als Kritik der Apparatemedizin, als Mittel der endgültigen "Selbstbestimmung" der PatientInnen, aber auch als Konsequenz knapper Gesundheitsbudgets. Können wir uns nicht mehr leisten, was medizinisch machbar und für Menschen heilsam ist? Auch diese Gedanken hatten in der NS-Zeit bereits ihre Vorläufer. Bei aller Offenheit und Toleranz gegenüber komplizierten Fragen der Medizinethik sollten wir die Folgen nicht vergessen, die solches Denken bereits einmal gehabt hat.