Chronologie
1784
Errichtung des "Narrenturms" im Wiener Allgemeinen Krankenhaus unter Joseph II.
1853
Gründung der Niederösterreichischen Landesirrenanstalt auf dem Brünnlfeld (im heutigen 9. Wiener Gemeindebezirk)
1859
Mit seinem Buch "On the Origin of Species by Means of Natural Selection or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life" löst der englische Naturforscher Charles Darwin (1809-1882) in den folgenden Jahren und Jahrzehnten eine Revolutionierung der damaligen Naturwissenschaft aus.
Die Theorien Darwins, insbesondere jene vom Überleben der Anpassungsfähigeren durch eine Auswahl im "Kampf ums Dasein" ("Selektion"), werden von nachfolgenden Wissenschaftern bzw. Ideologen vom Tier- und Pflanzenreich auf die menschliche Gesellschaft übertragen ("Sozialdarwinismus").
1868
Der deutsche Zoologe und Naturphilosoph Ernst Haeckel (1834-1919) propagiert in seinem Werk "Natürliche Schöpfungs-Geschichte" sozialdarwinistische Überlegungen.
1883
Francis Galton, ein Vetter von Charles Darwin, führt den Begriff "Eugenik" in den wissenschaftlichen Diskurs ein. Es geht ihm darum, die englische Elite durch gezielte staatliche Förderung zu früher Heirat und zur Zeugung vieler Nachkommen zu animieren, um auf diese Weise die "Zahl der Hervorragenden" von Generation zu Generation zu mehren.
1895
Der Protagonist der deutschen Rassenhygiene Alfred Ploetz (1860-1940) legt sein Hauptwerk "Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen" vor, in dem er eine "Aufartung", d. h. eine radikale Neuordnung der Gesellschaft nach sozialbiologischen und rassistischen Gesichtspunkten fordert. Im Gegensatz zu den "Eugenikern" postulieren die völkisch-national orientierten Rassenhygieniker um Ploetz auch eine Hierarchie zwischen den verschiedenen Rassen (mit den "Ariern" an der Spitze).
1903
Veröffentlichung der Abhandlung "Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker" durch den Arzt Wilhelm Schallmayer (1857-1919), die sich zum führenden Fachbuch für Eugenik entwickelt.
1904
Alfred Ploetz beginnt mit der Herausgabe der Zeitschrift "Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie", die internationale Verbreitung erfährt.
1907 18. Oktober
Eröffnung der Niederösterreichischen Landes-Heil- und Pflegeanstalt für Geistes- und Nervenkranke "Am Steinhof", bestehend aus 34 Krankenpavillons (Heilanstalt, Pflegeanstalt, Sanatorium) mit einer Gesamtkapazität von 2.200 Betten.
1914-1918
Während des Ersten Weltkriegs fallen an die 2.800 Steinhof-PatientInnen der dramatischen Nahrungsmittelknappheit und Infektionskrankheiten zum Opfer.
1920
Der Strafrechtsexperte Karl Binding (1841-1920) und der Psychiater Alfred Hoche (1865-1943) prägen in ihrer Schrift "Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form" erstmals den Begriff "lebensunwert" und treten für das Recht auf Tötung "unheilbar Kranker" ein. Binding und Hoches Veröffentlichung ist u. a. auch der Auslöser für eine heftige "Euthanasie"-Diskussion in der Weimarer Republik.
1924/1925
Gründung der "Wiener Gesellschaft für Rassenpflege", deren Vorsitz der aus Hamburg nach Wien berufene Univ.-Prof. Dr. Otto Reche, Vorstand des anthropologischen Instituts der Universität Wien, übernimmt. Als sein Stellvertreter fungiert der Hygieniker Univ.-Prof. Dr. Heinrich Reichel. Bei der Verbreitung rassenhygienischen Gedankenguts sowohl an den Universitäten als auch in der Öffentlichkeit spielt diese Gesellschaft vor 1938 eine zentrale Rolle. Ihre Mitglieder, zum Teil angesehene Wissenschafter, entstammen in aller Regel dem deutschvölkisch-antisemitischen akademischen Milieu.
1927
Veröffentlichung des Buches "Gesetzliche Unfruchtbarmachung Geisteskranker" des katholischen Theologen Dr. Joseph Mayer, in dem dieser die Sterilisierung Geisteskranker mit den Grundsätzen der katholischen Moraltheologie für vereinbar hält. Innerhalb der katholischen Kirche bleibt die theologische Meinung Mayers eine Minderheitenposition.
1928
In einem Referat vor dem "Österreichischen Bund für Volksaufartung und Erbkunde" tritt der Wiener sozialdemokratische Stadtrat für Wohlfahrtswesen Dr. Julius Tandler für die "Unfruchtbarmachung der Minderwertigen" ein. Auch in der Sozialdemokratie werden bevölkerungspolitische Überlegungen diskutiert, die trotz ihrer sozialen Ausrichtung auf eine Hygienisierung der Gesellschaft und eine Ausgrenzung von Randgruppen abzielen.
1931
Ein Beitrag von Heinrich Reichel über "Alfred Ploetz und die rassenhygienische Bewegung der Gegenwart" erscheint in der Wiener klinischen Wochenschrift, dem Organ der Gesellschaft der Ärzte in Wien. Rassenhygienische Ideen und Inhalte werden von angesehenen Wissenschaftern in seriösen Publikationen vertreten, so unter anderem auch vom Nobelpreisträger Univ.-Prof. Dr. Julius Wagner-Jauregg. In seinem Aufsatz "Zeitgemäße Eugenik" (1935) finden sich zahlreiche Übereinstimmungen mit der seit 1933 praktizierten nationalsozialistischen Gesundheitspolitik.
1931
Der "Centralausschuß der evangelischen Inneren Mission" bildet eine Fachkonferenz "Eugenik und Wohlfahrtspflege". Auf der ersten Konferenz in Treysa vom 18.-20. Mai 1931 wird die Unfruchtbarmachung von Geisteskranken in gewissen Fällen als "religiös-sittlich gerechtfertigt" bezeichnet.
1933 30. Jänner
Adolf Hitler wird deutscher Reichskanzler. Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland. Rassismus und Rassenhygiene werden ab nun zur Staatsideologie und bilden einen zentralen Bestandteil der NS-Politik.
1933 14. Juli
Verabschiedung des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses", aufgrund dessen bis 1940 an die 360.000 Menschen im Deutschen Reich zwangssterilisiert werden.
1934 3. April
Erlass des "Gesetzes zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens", das die Schaffung eines flächendeckenden Netzes von Gesundheitsämtern ermöglicht, denen die praktische Durchführung der "Erb- und Rassenpflege" obliegt.
1935 15. August
Beschluss der "Nürnberger Gesetze" auf dem Reichsparteitag in Nürnberg: Das "Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes" ("Blutschutzgesetz") verbietet einerseits die Eheschließung zwischen "Juden" und "Nichtjuden" sowie jeden außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen "Juden" und "Staatsangehörigen deutschen Blutes", andererseits die Beschäftigung von deutschen weiblichen Staatsangehörigen unter 45 Jahren in einem "jüdischen Haushalt". Nach dem "Reichsbürgergesetz" gelten nur noch "Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes" als Reichsbürger, "Juden" werden bloß als Staatsangehörige eingestuft, die keinen Anspruch mehr auf den Genuss staatsbürgerlicher Rechte haben. Das "Reichsbürgergesetz" stellt die juristische Grundlage für zahlreiche weitere antijüdische und rassistische Gesetze und Maßnahmen dar.
Bereits auf dem Nürnberger Reichsparteitag kündigte Hitler gegenüber Reichsärzteführer Gerhart Wagner die Beseitigung der als "Ballastexistenzen" bzw. "unnütze Esser" bezeichneten behinderten, psychisch kranken und unangepassten Menschen an.
1935 18. Oktober
Einführung des "Gesetzes zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes" ("Ehegesundheitsgesetz"). Aufgrund dieses Gesetzes erhalten die Gesundheitsämter die Möglichkeit, im Sinn der "Erb- und Rassenpflege" unerwünschte Ehen zu verhindern.
1938 12. März
"Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich: Damit setzt auch der Umbau des vormals österreichischen Gesundheitssystems nach dem Vorbild des "Altreichs" ein. Die Wiener Gesundheitsämter beginnen mit einer "erbbiologischen Bestandsaufnahme" der Wiener Bevölkerung in Form einer "Erbkartei" und einer "Sippenregistratur", in der alle so genannten "Minderwertigen" erfasst werden sollen. Bis 1945 werden 700.000 Karteikarten erstellt werden. Bald nach dem "Anschluss" wird die jüdische Bevölkerung systematisch aus allen Bereichen des Gesundheits- und Wohlfahrtswesens ausgeschlossen. Die nun auch in Österreich in Kraft tretenden antijüdischen Gesetze und Bestimmungen bringen die jüdischen ÄrztInnen sukzessive um ihre soziale wie ökonomische Existenz. Einem Großteil von ihnen gelingt die Flucht ins Ausland, hauptsächlich in die Vereinigten Staaten und nach Großbritannien. Die Vertreibung bezieht sich auch auf die jüdischen Hochschullehrer, die großteils durch aus der NS-Bewegung kommende Ärzte ersetzt werden.
1938 Juli
Jüdischen ÄrztInnen wird die Kassenzulassung entzogen.
1938 30. September
Mit der "vierten Verordnung" zum "Reichsbürgergesetz" erlöschen die Bestallungen (Approbationen) jüdischer ÄrztInnen. Für die verbleibende jüdische Bevölkerung sind nur noch jüdische "Krankenbehandler" zugelassen, in Wien sind das zunächst 370, eine Zahl, die durch die Vertreibung und durch Deportationen in Konzentrationslager und Gettos bis 1945 fast auf Null reduziert wird.
1939 Sommer
"Fall Knauer": Das Ansuchen der Eltern des schwerbehinderten "Kindes K." an Hitler, diesem den "Gnadentod" zu gewähren, gibt den Anstoß zur Inangriffnahme der "Kindereuthanasie".
1939 18. August
Geheimer Erlass des Reichsinnenministeriums, der alle Hebammen und leitenden Ärzte von Entbindungsanstalten und geburtshilflichen Abteilungen verpflichtet, Fälle von Idiotie, Mongolismus, Mikro- und Hydrozephalus oder Missbildungen der Extremitäten von der Geburt bis zum dritten Lebensjahr an die zuständigen Gesundheitsämter zu melden. Dieser Erlass gilt als Auftakt zur "Kindereuthanasie".
1939 1. September
Deutscher Überfall auf Polen. Beginn des Zweiten Weltkrieges. Die "Ermächtigung" Hitlers zur Gewährung des "Gnadentods" für "unheilbar Kranke" trägt das Datum des Kriegsausbruchs - sie ist offensichtlich von Hitler zu einem späteren Zeitpunkt erlassen und rückdatiert worden. Mit der Durchführung des "Euthanasie"-Programms werden der Leiter der "Kanzlei des Führers" ("KdF") Reichsleiter Philipp Bouhler und Hitlers Begleitarzt Prof. Dr. Karl Brandt, die schon einige Monate zuvor mit der Organisation der "Kindereuthanasie" befasst worden sind, beauftragt. Da die "KdF" unter keinen Umständen mit den "Euthanasiemorden" in Zusammenhang gebracht werden darf, schaffen Bouhler und Brandt gemeinsam mit Ministerialrat Dr. Herbert Linden vom Reichsinnenministerium mehrere "Tarnorganisationen", deren Zentrale ("Zentraldienststelle") ihren Sitz in der Berliner Tiergartenstraße 4 hat. Die "Zentraldienststelle" untersteht direkt dem von Viktor Brack geleiteten Hauptamt II der "KdF". Die Abkürzung des Sitzes "T4" dient nunmehr allen Beteiligten als Bezeichnung für die "Zentraldienststelle" sowie als Deckname für die vornehmlich die InsassInnen der Heil- und Pflegeanstalten umfassende Mordaktion.
1939 21. September
Runderlass des Reichsinnenministeriums zur Erfassung aller Heil- und Pflegeanstalten. Dieser Erlass fällt in die Vorbereitungsphase der Aktion "T4".
1939 Oktober
Errichtung der ersten "Kinderfachabteilung" in der Landesanstalt Görden bei Brandenburg, der ca. 29 weitere "Kinderfachabteilungen" folgen werden. Diese dienen zur Durchführung der sogenannten "Kindereuthanasie". Kinder, die nach Ansicht der Anstaltsärzte für die Tötung in Frage kommen, werden an den "Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden", einer Tarnorganisation der "Kanzlei des Führers", gemeldet. Kommt von dort ein "Behandlungsauftrag" wird das betreffende Kind mit Medikamenten (Schlafmitteln) oder durch Nahrungsentzug getötet.
1939 9. Oktober
Runderlass des Reichsinnenministeriums, unterzeichnet von Staatssekretär und Reichsärzteführer Dr. Leonardo Conti, aufgrund dessen an die Heil- und Pflegeanstalten Meldebogen zur Erfassung aller für die "Euthanasie" in Frage kommenden PatientInnen geschickt werden. Bezahlte ärztliche T4-Gutachter übernehmen die "Begutachtung" der Meldebogen und entscheiden mit einem simplen + oder - über Leben und Tod der betreffenden PatientInnen.
1939 14. November
Das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" wird per 1.1.1940 in der "Ostmark" eingeführt. In der "Ostmark" dürften schätzungsweise bis zu 10.000 Menschen Opfer der NS-Zwangssterilisierungen geworden sein.
1940 1. Jänner
Das "Ehegesundheitsgesetz" tritt auch für die "Ostmark" in Kraft.
1940 Jänner
Brandenburg und Grafeneck, die beiden ersten von insgesamt sechs NS-Euthanasieanstalten, nehmen ihren Betrieb auf: Die von den Gutachtern ausgewählten PatientInnen werden von den Anstalten per Bahn bzw. grauen Bussen in die Tötungszentren gebracht und dort in Gaskammern mittels Kohlenmonoxyd umgebracht.
1940 1. März
Der Direktor des hygienischen Institutes in Gelsenkirchen Prof. Dr. Max Gundel wird vom Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich Bürckel mit der Neuordnung des Wiener Gesundheitswesens betraut. Als Stadtrat für das Wiener Gesundheitswesen ist er auf der Kommunalebene hauptverantwortlich für die Durchführung der "Erbgesundheitspolitik" und für die Umsetzung der "Euthanasie-Maßnahmen".
1940 3. April
Auf einer Sitzung des Deutschen Gemeindetags in Berlin werden die Spitzen der Kommunalverwaltung mit dem "Euthanasie"-Programm vertraut gemacht.
1940 15. April
Nach einem Erlass des Reichsinnenministeriums müssen alle Anstalten die Zahl ihrer jüdischen PatientInnen melden.
1940 Mai
Es finden die ersten Vergasungen von PatientInnen in der NS-Euthanasieanstalt Schloss Hartheim bei Linz statt. Geleitet wird die Tötungsanstalt von dem Linzer Psychiater Dr. Rudolf Lonauer und seinem Stellvertreter Dr. Georg Renno (aus Straßburg). Hauptmann und SS-Obersturmführer Christian Wirth (aus Stuttgart) fungiert als Büroleiter, Personal- und Sicherheitschef ("Geschäftsführer"), unterstützt wird er bei seinen Aufgaben von zwei gebürtigen Österreichern, den Kriminalbeamten und SS-Offizieren Franz Reichleitner und Franz Stangl (ab Nov.).
1940 10. Juni
In einem Schreiben des Reichsstatthalters in Wien an den Direktor der Heil- und Pflegeanstalt der Stadt Wien "Am Steinhof" (Wagner-von-Jauregg Heil- und Pflegeanstalt) Dr. Alfred Mauczka wird die Verlegung eines großen Teils der AnstaltsinsassInnen angekündigt.
1940 12. Juni
Im Auftrag des Leiters der medizinischen Abteilung der "T4" Prof. Dr. Heyde beginnt eine Kommission in der Anstalt Steinhof damit, die für die Verlegung vorgesehenen PatientInnen auszuwählen. Dies geschieht in nur vier Tagen anhand einer Begutachtung der Krankengeschichten der Anstaltspfleglinge.
1940 Juli
Beginn der Verlegung von mindestens 3.200 Pfleglingen, davon 400 Juden, von der Anstalt Steinhof nach Hartheim. Ungefähr ein Drittel von ihnen wird vorübergehend in der der Stadt Wien gehörenden Anstalt Ybbs untergebracht, die im Zuge der Aktion "T4" gleichfalls "geräumt" wird. Ende August sind bereits die meisten Patiententransporte nach Hartheim abgegangen.
1940 8. Juli
Vormundschaftsrichter Dr. Lothar Kreyssig in Brandenburg protestiert bei Reichsjustizminister Dr. Gürtner, dass Geisteskranke in die Anstalt Hartheim und andere Anstalten verbracht und dort getötet worden seien. Die 1940 voll einsetzenden Massenmorde im Rahmen der Aktion "T4" stellen die formal immer noch gesetzlichen Normen verpflichtete Justiz vor Probleme. Zum einen werden von einzelnen Staatsanwälten und Gerichten aufgrund von Anzeigen Ermittlungen und Verfahren im Zusammenhang mit den Euthanasietötungen eingeleitet, wie zum Beispiel im Gau Oberdonau vom Oberstaatsanwalt Dr. Eypeltauer gegen den Hartheimer Euthanasiearzt Dr. Georg Renno, zum anderen gibt es Verfahren nach dem "Heimtückegesetz" gegen Personen, die die Euthanasietötungen angesprochen oder kritisiert haben.
1940 23. Juli
Die Wiener Krankenschwester Anna Wödl spricht in der Berliner Reichskanzlei und im Reichsinnenministerium bei Ministerialdirigent Dr. Linden vor und protestiert vergeblich gegen den Abtransport der Steinhof-Pfleglinge. Darüber hinaus motiviert sie zahlreiche andere Angehörige von Steinhof-PatientInnen zu Protestschreiben nach Berlin, wo tatsächlich "Wäschekörbe voll Post" aus Wien eintreffen. Der Widerstand gegen die Euthanasieaktionen geht in der Anstalt Steinhof von den Angehörigen der Pfleglinge aus, mit Unterstützung seitens des Ärzte- oder Pflegepersonals dürfen diese kaum rechnen. Vor der Anstalt Steinhof kommt es auch zu Demonstrationen von Angehörigen, die den Einsatz von Polizei und SS erfordern.
1940 24. Juli
Gründung der "Wiener städtischen Jugendfürsorgeanstalt 'Am Spiegelgrund'" und Unterbringung dieser Anstalt auf dem Steinhof in den Pavillons 1, 3, 5, 7, 9, 11, 13, 15 und 17. Ärztlicher Direktor dieser Anstalt wird Dr. Erwin Jekelius. Innerhalb dieser wird die "Kinderfachabteilung" als "Kleinkinder- und Säuglingsabteilung" im Pavillon 15 untergebracht. In diesem Pavillon versehen unter anderem die ÄrztInnen Dr. Heinrich Gross, Dr. Marianne Türk und Dr. Margarethe Hübsch ihren Dienst. Für den Zeitraum 1940 bis 1945 sind im Totenbuch der "Kinderfachabteilung" 789 Namen verzeichnet. In der Anstaltsprosektur werden den meisten der getöteten Kinder die Gehirne und Rückenmarksstränge entnommen und als Präparate für eine (spätere) wissenschaftliche Auswertung aufbewahrt. Unter diesen Opfern befinden sich auch jene Kinder, die im Zuge der Tuberkulose-Impfexperimente der Wiener Universitätskinderklinik, für deren Durchführung Doz. Dr. Elmar Türk verantwortlich ist, getötet worden sind.
1940 30. August
Ein Erlass des Reichsinnenministeriums ordnet an, dass jüdische Anstaltsinsassen in bestimmten öffentlichen Anstalten, darunter Wien-Steinhof, unterzubringen sind. An die 400 jüdischen PatientInnen werden im Rahmen der Aktion "T4" vom Steinhof abtransportiert und in Schloss Hartheim ermordet.
1940 Herbst
In einem Flugblatt der illegalen Grazer KPÖ werden Abtransport und Ermordung der Steinhof-PatientInnen offen zur Sprache gebracht und verurteilt.
1941 April
Beginn der Aktion "14f13" (benannt nach dem entsprechenden Aktenzeichen des Inspekteurs der Konzentrationslager beim Reichsführer SS): "T4" Ärztekommissionen selektieren nicht mehr arbeitsfähige oder missliebige KZ-Häftlinge, die in den Euthanasieanstalten ermordet werden.
1941 16. April
Die Visitatorin der Salzburger Ordensprovinz der Barmherzigen Schwestern vom Hl. Vinzenz von Paul Sr. Anna Bertha von Königsegg wird zum zweiten Mal verhaftet, nachdem sie in einem Brief an Reichsstatthalter Friedrich Rainer gegen den Abtransport der ihrem Orden anvertrauten Pfleglinge protestiert und die Mitwirkung der geistlichen Schwestern am Abtransport verboten hat. Während ihrer Haft werden die PatientInnen aus der Anstalt Schernberg abtransportiert. Schwester Anna Bertha kommt nach vier Monaten Gestapo-Haft im August 1941 mit der Auflage frei, Salzburg umgehend zu verlassen.
1941 23./24. April
Konferenz des Reichsjustizministeriums unter der Leitung von Staatssekretär Prof. Dr. Franz Schlegelberger im Berliner "Haus der Flieger", an der das gesamte Führungskorps der Justiz teilzunehmen hat. Viktor Brack von der "KdF" und Prof. Dr. Werner Heyde (T4-Obergutachter) setzen die anwesenden Generalstaatsanwälte und Oberlandesgerichtspräsidenten von der Durchführung der "Aktion T4" in Kenntnis, die von jeder Störung durch Richter und Staatsanwälte freizuhalten ist. Schlegelberger verpflichtet die Generalstaatsanwälte, alle Eingaben und Strafanzeigen, die die NS-Euthanasie betreffen, nicht weiter zu verfolgen.
1941 23. Mai
In der Anstalt Wien-Steinhof trifft ein Transport mit 23 jüdischen Kindern aus einem Heim in Wien 19., Langackergasse 12, ein. Franziska Danneberg-Löw, seit 1937 Fürsorgerin der Israelitischen Kultusgemeinde Wien bzw. später des Ältestenrates der Juden in Wien, bemüht sich um die Rettung dieser Kinder. Wenige Tage später werden diese Kinder vom Steinhof offiziell in eine "Anstalt für Geisteskranke im Generalgouvernement", tatsächlich aber höchstwahrscheinlich nach Hartheim, weitertransportiert. Vor der Euthanasie hat Frau Danneberg-Löw hingegen die im Heim Wien 2., Tempelgasse 3, untergebrachten Kinder durch Überstellung ins Rothschild-Spital, wo sie in Dr. Viktor Frankl einen Mitstreiter gefunden hat, retten können. Allerdings werden die Kinder in die späteren Deportationen nach Polen miteinbezogen.
1941 13. Juni
Der letzte Transport mit 13 jüdischen PatientInnen geht im Rahmen der Aktion "T4" vom Steinhof nach Hartheim ab.
1941 22. Juni
Deutscher Überfall auf die Sowjetunion. Beginn des Vernichtungskrieges im Osten.
1941 3. August
Predigt des Bischofs Clemens August Graf von Galen in der Lambertikirche in Münster, in der er die Tötungen von Geisteskranken offen als Mord anprangert und mitteilt, dass er eine Strafanzeige wegen Mordes eingebracht hat. Die Predigt Galens hat eine große Wirkung, sie wird hektographiert und zu Tausenden Exemplaren illegal verbreitet sowie von der Royal Air Force als Flugblatt abgeworfen.
1941 24. August
Aus außen- und innenpolitischen Erwägungen verfügt Adolf Hitler einen offiziellen Euthanasie-Stopp. Der sogenannte "Abbruch" der Aktion "T4" ändert allerdings nichts an der Weiterführung anderer bestehender (NS-Kindereuthanasie, Aktion "14f13") und der Entwicklung neuer Euthanasieprogramme ("wilde Euthanasie", "Ostarbeiter").
1941 August
Die Heil- und Pflegeanstalt Wien-Steinhof entwickelt sich nach dem Stopp der Aktion "T4" zunehmend zu einem Zentrum des organisierten Massensterbens ("wilde Euthanasie"/"dezentrale Anstaltsmorde"), an dem maßgeblich die Leitung und das Personal der Anstalt, die Wiener Gemeindeverwaltung, die Wiener Gauleitung, die Zentraldienststelle T4 in Berlin, der Reichsbeauftragte für die Heil- und Pflegeanstalten Dr. Linden und die Wehrmacht beteiligt sind. Das Massensterben der PatientInnen wird durch Überbelegung, pflegerische Vernachlässigung, Personalreduktion, Medikamenteneinsparung, Nahrungsmittelentzug sowie durch die Begünstigung der Ausbreitung von Infektionskrankheiten verursacht. Die Wechselwirkung zwischen Hunger und Infektionskrankheiten erweist sich als besonders verhängnisvoll.
1941 September
Versetzung von Hauptmann Christian Wirth von Hartheim zum SS- und Polizeiführer im Distrikt Lublin, Odilo Globocnik, im Rahmen der Vorbereitungen für die "Aktion Reinhard", der systematischen Ermordung der Juden im "Generalgouvernement" (Polen). Bei der Umsetzung der "Aktion Reinhard" wird besonders auf Personal der Organisation "T4" zurückgegriffen, das seit dem Euthanasie-Stopp vom August 1941 verstärkt zur Verfügung steht. Die bei der Durchführung der Aktion "T4" gewonnenen organisatorischen und technischen Erfahrungen in der industriellen Vernichtung von Menschen werden für den Holocaust in modifizierter Weise übernommen.
1941 23. September
Die Nummer 19 der von der Royal Air Force über deutschem Reichsgebiet abgeworfenen Propagandazeitung "Luftpost" wird unter dem Titel "Der Herr mit der Spritze" über die mörderische Tätigkeit des Dr. Jekelius in der Anstalt Steinhof berichtet.
1941 Herbst
Selektionsaktionen von T4-Ärzten in den KZ Dachau, Mauthausen und Gusen. Kranke, arbeitsunfähige bzw. unliebsame KZ-Häftlinge werden in die Mordanstalt Hartheim verlegt.
1941 November
Christian Wirth wird mit der Errichtung des Vernichtungslagers Belzec ("Aktion Reinhard") beauftragt, in dem er bis August 1942 die Funktion eines Lagerkommandanten ausübt. In Belzec werden bis März 1942 90.000 Juden ermordet.
1941 31. Dezember
In seiner Silvesterpredigt nimmt der St. Pöltner Diözesanbischof Michael Memelauer gegen die NS-Euthanasie Stellung: "Vor unserem Herrgott gibt es kein unwertes Leben."
1942 Jänner
Der Leiter der "Wiener städtischen Jugendfürsorgeanstalt 'Am Spiegelgrund'" Dr. Erwin Jekelius rückt zur Wehrmacht ein. Vorübergehend werden Doz. Dr. Hans Bertha und Dr. Margarethe Hübsch mit der Leitung dieser Anstalt betraut.
1942 März
Umbenennung der "Wiener städtischen Jugendfürsorgeanstalt 'Am Spiegelgrund'" in "Heilpädagogische Klinik der Stadt Wien 'Am Spiegelgrund'".
1942 März
Franz Stangl wird Kommandant des Vernichtungslagers Sobibor ("Aktion Reinhard"), im August löst ihn der ebenfalls aus Hartheim versetzte Franz Reichleitner in dieser Funktion ab.
1942 1. Juli
Der aus Leipzig stammende Nervenfacharzt Doz. Dr. Ernst Illing übernimmt die Leitung der "Heilpädagogischen Klinik der Stadt Wien 'Am Spiegelgrund'".
1942 28. Juli
Ernennung Karl Brandts zum Bevollmächtigten für das Sanitäts- und Gesundheitswesen.
1942 30./31. August
Die noch in der Anstalt Steinhof befindlichen jüdischen Pfleglinge werden durch die "Zentralstelle des Inspekteurs der Sicherheitspolizei", gemeint ist die von Alois Brunner geleitete "Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien", abtransportiert. Im September und Oktober werden diese in die Deportationen nach Theresienstadt, Minsk und Maly Trostinec einbezogen, wo nahezu alle Deportierten umkommen.
1942 September
Franz Stangl übernimmt anstelle des aus Österreich stammenden Euthanasiearztes Dr. Irmfried Eberl die Leitung des Vernichtungslagers Treblinka ("Aktion Reinhard"), wo er bis zum August 1943 die Ermordung von mindestens 900.000 Juden beaufsichtigt.
1942 November
Teilung der "Heilpädagogischen Klinik der Stadt Wien 'Am Spiegelgrund'" in die "Wiener städtische Nervenklinik für Kinder 'Am Spiegelgrund'" (Pavillon 15 und 17) mit 220 Betten und die "Wiener städtische Erziehungsanstalt 'Am Spiegelgrund'" mit 680 Betten.
1943 27. April
Die erste Phase der Aktion "14f13" wird beendet, um die Häftlinge für die Kriegsindustrie einsetzen zu können.
1943 8. Mai
Transport von 106 Mädchen und Frauen aus der Diakonieanstalt Bad Kreuznach nach Wien-Steinhof. Es handelt sich hierbei um den ersten von mehreren Sammeltransporten, die im Zuge der "Aktion Brandt" auf den Steinhof gelangen. Diese Aktion ist nach ihrem Hauptorganisator Dr. Karl Brandt, der 1939 von Hitler mit der "Euthanasie" beauftragt worden und 1942/43 zum einflussreichsten NS-Funktionär aufgestiegen ist. Die Ausweitung des Luftkriegs liefert den Anlass für die Räumung von Heil- und Pflegeanstalten in luftgefährdeten Gebieten des "Altreiches". Tatsächlich dienen diese Patientenverlegungen zur Verschleierung der Todesbeschleunigungen. Auch am Steinhof werden diese "anstaltsfremden" PatientInnen bevorzugt Opfer des Hungers und der Infektionskrankheiten. So sterben von den 106 Patientinnen des Bad Kreuznach-Transportes bis Ende 1945 mindestens 84, das entspricht einer Sterberate von 80%.
1943 19.-21. Mai
Transport von 144 Knaben und Männern aus dem St.-Josefs-Haus Hardt bei Mönchengladbach nach Wien-Steinhof, von denen bis Ende 1945 mindestens 117 versterben.
1943 17. August
Transport von 298 Mädchen und Frauen aus den Hamburger Anstalten Alsterdorf und Langenhorn nach Wien-Steinhof, von denen bis Ende 1945 mindestens 257 ums Leben kommen.
1944 1. Jänner
Der vormalige T4-Gutachter und Leiter des "Referats für Nerven-, Geisteskranke und Süchtige" im Hauptgesundheitsamt Wien Doz. Dr. Hans Bertha löst Dr. Alfred Mauczka als ärztlichen Direktor der Anstalt Steinhof ab. Unter Hans Bertha wird die anstaltsinterne "Euthanasie" intensiviert, die Sterblichkeit steigt von 13,9% (1941) auf 22,14% (1944). Dozent Bertha wird 1945 über Empfehlung von Prof. Dr. Max de Crinis (Berlin) zum außerplanmäßigen Professor für Neurologie und Psychiatrie an der medizinischen Fakultät der Universität Wien.
1944 März
"Räumung" der Anstalt Gugging, die in ein Ausweichkrankenhaus der Stadt Wien umgewandelt werden soll: Über 280 arbeitsfähige Pfleglinge, großteils Kinder und Jugendliche, werden auf den Steinhof gebracht. Mehr als ein Drittel dieser PatientInnen erlebt das Jahresende 1945 nicht.
1944 April
Die zweite Phase der Aktion "14f13" beginnt. Insgesamt werden mehr als 8.000 Häftlinge der KZ-Dachau, Mauthausen und Gusen den Tod in der Gaskammer von Schloss Hartheim finden.
1944 6. September
Runderlass des Reichsinnenministeriums wegen "geisteskranker Ostarbeiter und Polen". Diese sollen in Sammelanstalten, darunter Mauer-Öhling, konzentriert werden. Dauerhaft arbeitsunfähige Zwangsarbeiter sollen der Euthanasie in der Tötungsanstalt Hartheim zugeführt werden.
1944 20. September
Schreiben des Apostolischen Administrators der Diözese Innsbruck-Feldkirch Paul Rusch, in dem er allen unterstehenden kirchlichen Anstalten und Ordensschwestern die Mitwirkung an der "Unfruchtbarmachung" untersagt.
1944 Oktober
Ein kleiner Transport von Patienten wird aus der Anstalt Ybbs nach Wien-Steinhof transferiert. Anlass dafür ist die Umwandlung des Reservelazaretts Ybbs in ein Kriegslazarett.
1944 12. Dezember
Abbau der letzten Euthanasie-Vergasungsanstalt Hartheim.
1945 Februar
Hartheim ist wieder ein Kinderheim.
1945 Frühjahr
Kleinere Transporte aus dem Altersheim Liesing, dem Versorgungshaus Lainz und aus dem Altersheim Mauerbach treffen am Steinhof ein. Die dort grassierenden Infektionen und der drückende Hunger raffen die hauptsächlich betagten PatientInnen rasch dahin.
1945 April
Befreiung der Anstalt Wien-Steinhof durch die Rote Armee. Die Lebensmittelversorgung bricht beinahe gänzlich zusammen. Die von den Nazis herbeigeführten Zustände der Überbelegung, der Infektionskrankheiten und der systematischen Unterernährung der Pfleglinge bewirken auch in den nächsten Monaten eine Fortsetzung des Massensterbens. Die Sterberate erreicht in diesem Jahr mit 42,76% ihren Höhepunkt. Insgesamt sind dem Hungersterben am Steinhof im Zeitraum 1941 bis 1945 mehr als 3.500 PatientInnen zum Opfer gefallen. Der Direktor der Anstalt Wien-Steinhof Doz. Dr. Bertha wird verhaftet und von der Stadt Wien außer Dienst gestellt. Nach einer kurzen Haftzeit wird er allerdings zu Prosekturarbeiten am Steinhof abgestellt.
1945 30. April
Selbstmord Adolf Hitlers.
1945 Mai
Auflösung der "Wiener städtischen Nervenklinik für Kinder 'Am Spiegelgrund'" ("Kinderfachabteilung").
1945 5. Mai
Der ärztliche Direktor der Tötungsanstalt Hartheim Dr. Rudolf Lonauer begeht mit seiner Familie Selbstmord.
1945 8. Mai
Unterzeichnung der deutschen Gesamtkapitulation.
1945 27. Juni
Major Charles H. Dameron, Leiter des "War Crimes Investigation Teams 6824" der US-Armee, findet im Rahmen seiner Ermittlungen betreffend die Euthanasiemorde in der Anstalt Hartheim die sogenannte "Hartheimer Statistik" auf, eine minuziöse Auflistung der durch die "Euthanasie" bewirkten "Einsparungen": Demnach dürften im Zuge der Aktion "T4" allein in Schloss Hartheim 18.269 Menschen ermordet worden sein. Die Gesamtzahl der "T4"-Opfer beziffert die NS-interne Statistik auf "70.273".
1945 4. September
Der ehemalige Heizer von Hartheim Vinzenz Nohel wird von der Kriminalpolizei Linz einvernommen. In seinem Verhör schildert er detailliert den Ablauf des Massenmordes in Schloss Hartheim.
1945 20. November
Die Hauptkriegsverbrecher werden von den Alliierten vor ein Internationales Militärtribunal in Nürnberg gestellt. Am 1. 10. 1946 ergehen die Urteile. 12 weitere Nürnberger Prozesse folgen.
1946 29. März
Beginn des "Mauthausen-Prozesses" in Dachau. Unter den 58 Todesurteilen befindet sich auch jenes von Vinzenz Nohel, dem "Heizer" im Krematorium von Hartheim.
1946 August
Das Wiener Volksgericht verurteilt den ehemaligen Leiter der "Kinderfachabteilung" am Spiegelgrund Dr. Ernst Illing wegen Meuchelmordes zum Tode, die diesem unterstellte Ärztin Dr. Marianne Türk zu einer zehnjährigen Freiheitsstrafe. Für den Zeitraum Juli 1942 bis April 1945 gestehen beide die Mitwirkung an rund 200 Tötungen von Kindern. Dieses Urteil spiegelt die ernsthaften Bemühungen wider, mit denen vorerst auch in Österreich unter dem Druck der Alliierten eine konsequente strafrechtliche Verfolgung von NS-TäterInnen angestrebt wird. So werden Volksgerichtsverfahren gegen eine Reihe von NS-Euthanasietätern, darunter gegen den ehemaligen ärztlichen Direktor der Anstalt Steinhof Dr. Hans Bertha, eingeleitet, die jedoch bald darauf wieder eingestellt werden.
1946 25. Oktober
Wichtige NS-Medizinverbrecher, darunter zwei Hauptverantwortliche für die NS-Euthanasie, Karl Brandt und Viktor Brack, werden von einem US-Militärgerichtshof im sogenannten "Nürnberger Ärzteprozess" zur Verantwortung gezogen. Ferner steht auch der Österreicher Prof. Dr. Wilhelm Beiglböck wegen der Meerwasserversuche im KZ Dachau unter Anklage.
1947 November
Vor dem Volksgericht Linz beginnt der Prozess gegen acht Angeklagte des Hartheim-Personals wegen Beihilfe zum Mord. Am 27. Nov. wird das Urteil verkündet: Das Pflegepersonal wird freigesprochen, nur die beiden Kraftfahrer erhalten Freiheitsstrafen in der Höhe von zweieinhalb bzw. dreieinhalb Jahren.
1948 1. April
Verhaftung von Dr. Heinrich Gross wegen Verdachts der Mitwirkung an der NS-Kindereuthanasie am Spiegelgrund durch die Gendarmerie in Köflach und anschließende Überstellung ins Landesgericht Wien.
1948 9. April
Urteil des Volksgerichts Wien gegen Anna Katschenka, ehemalige Krankenpflegerin in der "Kinderfachabteilung" am Spiegelgrund, wegen Totschlags zu acht Jahren schweren Kerkers.
1948 Juli
Eröffnung der Hauptverhandlung im Verfahren vor dem Volksgericht Linz gegen drei weitere Angehörige des Personals von Hartheim und Niedernhart. Zwei Pfleger werden zu einer Freiheitsstrafe von fünfeinhalb bzw. drei Jahren verurteilt, einer wird freigesprochen.
1948 Dezember
Dr. Alfred Hackel, der Leiter der "Arbeitsanstalt für asoziale Frauen" am Steinhof, ursprünglich vom Wiener Volksgericht wegen Verletzung der Menschenwürde (Zwangssterilisationen, Brechinjektionen) mit 20 Jahren Haft bestraft, wird in der Revision vom Obersten Gerichtshof zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, von denen er aber nur einen Bruchteil absitzt (bedingte Haftentlassung am 17. 5. 1949). Im Zuge des Kalten Krieges und der gesellschaftlich-politischen Reintegration der ehemaligen Nationalsozialisten wird in Österreich die Strafverfolgung auch der NS-MedizintäterInnen immer mehr abgeschwächt, um schließlich zum Erliegen zu kommen.
1950 29. März
Der vormals in der "Kinderfachabteilung" am Spiegelgrund tätige Arzt Dr. Heinrich Gross wird vom Wiener Volksgericht wegen Totschlags zu zwei Jahren schweren Kerkers verurteilt. Gross und die Krankenschwester Katschenka werden nur wegen Totschlags verurteilt, weil die Rechtsprechung in Österreich davon ausgeht, dass an Geisteskranken kein heimtückischer Mord begangen werden könne, da diesen "die Einsicht fehle".
1951 April
Der Oberste Gerichtshof hebt das Urteil gegen Dr. Gross auf.
1951 Mai
Die Staatsanwaltschaft zieht den Strafantrag gegen Dr. Gross zurück, das Verfahren wird eingestellt. Dr. Gross absolviert in der Folge eine Facharztausbildung im Neurologischen Krankenhaus Rosenhügel, anschließend kehrt er in die Heil- und Pflegeanstalt Steinhof zurück, wo er bis zum Primarius (1962) aufsteigt. Dr. Gross ist kein Einzelfall. Während viele belastete Ärzte ihre berufliche Laufbahn fortsetzen, wird den Opfern der NS-Medizin im Unterschied zu den politisch oder rassistisch Verfolgten jegliche staatliche Anerkennung und Wiedergutmachung vorenthalten.
1953
Dr. Gross beginnt mit der wissenschaftlichen Auswertung der Gehirne der Spiegelgrund-Opfer, die sorgfältig präpariert und aufbewahrt worden sind. Über einen Zeitraum von 25 Jahren veröffentlicht er auf dieser Grundlage Dutzende einschlägige Arbeiten auf dem Gebiet der Neuropathologie, zum Teil unter Beteiligung prominenter Kollegen. Im selben Jahr tritt Gross der SPÖ bei.
1954
Doz. Dr. Hans Bertha, als ehemaliger T4-Gutachter und Direktor der Anstalt Wien-Steinhof 1944/45 einer der Hauptverantwortlichen der NS-Euthanasie in Wien, erhält eine außerordentliche Professur für Neurologie und Psychiatrie an der Universität Graz. Wegen seiner Mitwirkung an der NS-Euthanasie ist Dr. Bertha niemals gerichtlich zur Verantwortung gezogen worden. In einem Verfahren vor dem Volksgericht Graz wegen illegaler Tätigkeit für die NSDAP 1948 ist es ihm dank entlastender Aussagen ehemaliger SS-Kameraden trotz anders gelagerter Beweise gelungen, einen Freispruch zu erzielen. Als "Minderbelastetem" war es Bertha nun möglich, eine neue Karriere - zunächst als Facharzt in seiner Heimatstadt Bruck an der Leitha - zu beginnen.
1955 20. Dezember
Im "Staatsvertragsjahr" werden die österreichischen Volksgerichte, die ausschließlich zur Ahndung von Kriegs- und NS-Verbrechen eingesetzt worden sind, aufgelöst. Seit diesem Zeitpunkt wird in Österreich kein Euthanasieverfahren mehr mit einem rechtskräftigen Urteil abgeschlossen.
1961 25. Oktober
Dr. Georg Renno, einer der beiden Vergasungsärzte in Hartheim, wird in Ludwigshafen (D) verhaftet. In Deutschland kommt es in den sechziger Jahren infolge einer geänderten Haltung von Teilen der Nachkriegsjustiz zu einer zweiten Welle von Gerichtsverfahren, die eine weitere Aufarbeitung der NS-Verbrechen zum Ziel haben.
1964
Nachdem Hans Bertha zwei Jahre zuvor zum ordentlichen Professor für Neurologie und Psychiatrie ernannt und darüber hinaus zum Dekan der medizinischen Fakultät der Universität Graz gewählt worden ist, verunglückt er bei einem Autounfall. In der "Österreichischen Ärztezeitung" erscheint ein apologetischer Nachruf.
1968
Primarius Dr. Gross erhält ein eigenes "Ludwig Boltzmann-Institut zur Erforschung der Missbildungen des Nervensystems", als dessen Leiter er die systematische Verwertung der Gehirne aus der NS-Zeit fortsetzt. Daneben etabliert er sich als einer der meistbeschäftigten und bestverdienenden Gerichtspsychiater Österreichs.
1969 August
Es findet die Hauptverhandlung gegen Dr. Georg Renno, einem der drei Angeklagten des dritten Frankfurter Euthanasieverfahrens, statt. Während die Mitangeklagten langjährige Freiheitsstrafen (zehn und sieben Jahre) bekommen, gelingt es Renno, aus gesundheitlichen Gründen eine vorläufige Verfahrenseinstellung zu erwirken.
1970 29. Dezember
Der ehemalige "Büroleiter" von Hartheim und Kommandant der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka, Franz Stangl, der 1967 von Brasilien an die Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert worden ist, wird vom Landgericht Düsseldorf wegen gemeinschaftlich begangenen Mordes an mindestens 400.000 Juden zu lebenslanger Haft verurteilt. Er stirbt ein halbes Jahr später (28. 6. 1971) in Haft.
1975 19. Dezember
Endgültige Verfahrenseinstellung gegen Dr. Georg Renno, der trotz angeblich schwerer Krankheit bis 1997 lebt.
1976
Der mit dem "Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst (1. Klasse)" ausgezeichnete Dr. Gross begutachtet als Gerichtspsychiater den Überlebenden des Spiegelgrund Friedrich Zawrel, der mit zehn Jahren als "schwererziehbar" in die Jugendfürsorgeanstalt am Spiegelgrund gekommen ist. Zawrel erkennt seinen ehemaligen Peiniger, den seinerzeitigen Euthanasiearzt der "Kinderfachabteilung" am Spiegelgrund wieder. In dem Gutachten, das Gross über Zawrel zu erstellen hat, zitiert er ungeniert aus dessen NS-Akte aus dem Jahr 1944. Der Wiener Arzt Dr. Werner Vogt und die "Arbeitsgemeinschaft Kritische Medizin" nehmen sich des Falles an und setzen sich mit der Täterrolle des ehemaligen NS-Euthanasiearztes Gross öffentlich auseinander.
1979
Mitglieder der "Arbeitsgemeinschaft Kritische Medizin", darunter Dr. Vogt, protestieren in einem Flugblatt gegen einen Vortrag von Dr. Gross an der von Prof. Harrer geleiteten Landesnervenklinik Salzburg über "Tötungsdelikte von Geisteskranken". Gross, dem die Mitwirkung "an der Tötung Hunderter angeblich geisteskranker Kinder" vorgeworfen wird, klagt Dr. Werner Vogt wegen Ehrenbeleidigung.
1981
Die Karriere des Dr. Gross erleidet einen ersten Knick. Der von Gross gegen Dr. Vogt angestrengte Ehrenbeleidigungsprozess endet in zweiter Instanz mit einem Freispruch für Vogt. Das Oberlandesgericht Wien sieht es als erwiesen an, dass Gross während seiner Zeit in der "Kinderfachabteilung" am Spiegelgrund an der Tötung von Kindern mitbeteiligt gewesen ist. Gross wird pensioniert und aus der SPÖ ausgeschlossen. Seine Tätigkeit als Gerichtssachverständiger kann er hingegen ungehindert fortsetzen. Im selben Jahr erfolgt die Zusammenlegung des von Gross geleiteten Ludwig-Boltzmann-Institutes zur Erforschung der Missbildungen des Nervensystems mit dem Ludwig-Boltzmann-Institut für Klinische Neurobiologie, der Name letzteren Instituts wird beibehalten.
1989
Auf Druck des Wissenschaftsministeriums muss Gross seine Leiterfunktion im Ludwig-Boltzmann-Institut für Klinische Neurobiologie zurücklegen, die er gemeinsam mit Univ.-Prof. Dr. Kurt Jellinger ausgeübt hat.
1991
Die international vielbeachtete Erklärung von Bundeskanzler Dr. Franz Vranitzky über die Mittäterschaft der ÖsterreicherInnen während der NS-Herrschaft ist Ausdruck eines durch den Generationenwechsel und andere Faktoren veränderten politisch-gesellschaftlichen Klimas, das nun auch für die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung positive Folgen hat.
1995
Der Nationalrat beschließt einstimmig die Einrichtung des "Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus", in dem erstmals die Opfer der NS-Rassenhygiene anerkannt sind. Eine beinahe zeitgleiche Novellierung des Opferfürsorgegesetzes führt dazu, dass nun endlich auch Behinderung als NS-Verfolgungsgrund gilt. Weiterhin unberücksichtigt geblieben sind die von der NS-Pädagogik als "asozial" stigmatisierten und in die Erziehungsheime gesperrten Kinder, die bis heute um ihre Anerkennung als NS-Opfer kämpfen müssen.
1997
Aufgrund neuer belastender Quellen erstattet das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes Strafanzeige gegen Dr. Heinrich Gross.
1998
Einleitung eines Strafverfahrens beim Landesgericht für Strafsachen Wien gegen Dr. Heinrich Gross wegen Verbrechen des Mordes. Die Dissertation von Matthias Dahl über die "Kinderfachabteilung" am Spiegelgrund markiert vor dem Hintergrund einer zunehmend sensibilisierten Öffentlichkeit den ersten Schritt einer in Gang kommenden systematischen wissenschaftlichen Erforschung der komplexen NS-Euthanasievorgänge in der ehemaligen Anstalt am Steinhof. Zum Zweck der Aufarbeitung wird in diesem Jahr ein Symposium mit dem Titel "Zur Geschichte der NS-Euthanasie in Wien" ins Leben gerufen, das bislang in zweijährigem Intervall eine Fortsetzung erfahren hat.
1999
Anklage der Staatsanwaltschaft Wien gegen Dr. Gross.
2001 Jänner
Das Landesgericht Wien beginnt mit gerichtlichen Voruntersuchungen im Zusammenhang mit den "dezentralen Anstaltsmorden" am Steinhof ("Hungersterben", "wilde Euthanasie"). Diese werden jedoch wieder eingestellt.
2000 März
Die Verhandlung gegen Dr. Gross wird aus Gesundheitsgründen unterbrochen, Gross gilt als nicht verhandlungsfähig. Bis heute ist das Verfahren nicht wieder aufgenommen worden.
2002 28. April
In Anwesenheit von Bundespräsident Dr. Thomas Klestil und von Wiens Bürgermeister Dr. Michael Häupl findet auf dem Wiener Zentralfriedhof die feierliche Beisetzung der noch aus der NS-Zeit vorhandenen Spiegelgrund-Präparate in einem Ehrengrab der Stadt Wien statt.
2005 15. Dezember
Dr. Heinrich Gross verstirbt im Alter von 90 Jahren. Die strafrechtliche Verfolgung seiner Verbrechen ist damit endgültig gescheitert.
2012 9. Mai
In Anwesenheit von Bundespräsident Dr. Heinz Fischer und Bürgermeister Michael Häupl werden weitere Präparate aus der NS-Zeit am Wiener Zentralfriedhof bestattet. Es handelt sich dabei um mutmaßliche Opfer der „dezentralen Euthanasie“ in der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof.